Jahrbuchartikel:

"Die Stimme" der Toten undderjenigen, die noch ster ben werden"

- Mbolo Movuh Yufanyi von The VOICE Refugee Forum



Jahrbuchartikel: "Die Stimme" der Toten und
derjenigen, die noch ster ben werden" - Mbolo Movuh Yufanyi von The VOICE Refugee Forum

Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hrsg.) Jahrbuch 2009
Jenseits der Menschenrechte: Die europäische Flüchtlings- und
Migrationspolitik
Erscheinen: März 2009**

"Die Stimme" der Toten und derjenigen, die noch sterben werden" - Mbolo
Movuh Yufanyi von The VOICE Refugee Forum

I Unsere Selbstorganisierung
II Die Verfolgung und Kriminalisierung der Flüchtlinge und Migranten

http://thevoiceforum.org/node/1184

Ich möchte mit einem Zitat aus dem Buch von Marianna Williamson ?Die
Rückkehr zur Liebe?, beginnen (S. 165), erschienen 1992 (New York,
HarperCollins).

?Unsere tiefste Angst ist nicht, dass wir unzulänglich sind. Unsere
tiefste Angst ist, über die Maßen stark zu sein. Es ist unser Licht, nicht
unsere Dunkelheit, die uns am meisten Angst macht. Wir fragen uns: ?Wer
bin ich, um hervorragend, großartig, talentiert und berühmt zu sein.?
Eigentlich aber ist die Frage, wer bist Du, nicht so zu sein? Du bist ein
Kind Gottes. Dich selbst klein zu halten, dient nicht der Welt. Es ist
sehr aufschlussreich, Dich klein zu machen, damit andere um Dich herum
sich nicht unsicher fühlen. Wir sind alle dazu bestimmt, zu leuchten, wie
es Kinder tun. Wir wurden geboren, um die Ehre Gottes offenkundig zu
machen, die in uns ist. Sie ist nicht nur in einigen von uns. Sie ist in
uns allen. Und wenn wir unser eigenes Licht scheinen lassen, geben wir
anderen Menschen unbewusst auch die Erlaubnis, das gleiche zu tun. Wenn
wir von unserer eigenen Angst befreit sind, befreit unsere Gegenwart
automatisch auch die anderen?.

Setzt man sich mit dem Kampf der Flüchtlinge und Migranten in Deutschland
gegen das rassistische System und seine Konzepte auseinander, fällt auf,
dass es einen Unterschied zwischen dem Verständnis von Xenophobie und
Rassismus gibt. Während Xenophobie eine Angst vor dem Unbekannten ist, die
überall auf der Welt existiert, und meist auf Ignoranz basiert, ist
Rassismus eine Angst, die aus Wissen und tiefgehendem Überlegenheitsgefühl
herrührt, ein Phänomen der weißen europäischen Gesellschaft.
Intellektuelle, regionale und staatliche Institutionen und Politiker haben
ihn in Deutschland angeheizt. Die unsichtbare und unberechenbare
Trennlinie umfasst manchmal sogar den progressiven linken Teil der
deutschen Gesellschaft. Das ist ein kontinuierliches Hindernis oder
Erschwernis in dem Bemühen der Selbstorganisation von Flüchtlingen und
Migranten.

Unsere Selbstorganisierung

Indem ich den Charakter der Selbstorganisationen der Flüchtlinge und
Migranten in Deutschland oder die Selbstermächtigung für unseren Kampf
gegen Verfolgung, Rassismus, Ausbeutung und Kapitalismus als Ganzes
beschreibe, werde ich in meine aktive Teilnahme in dieser Gesellschaft
einführen. Dies ist Teil meiner Erfahrung als Mitglied einer
selbstorganisierten Flüchtlingsorganisation, The VOICE, (Refugee) Forum
(
http://thevoiceforum.org/about).

The VOICE wurde 1994 gegründet. Ich lernte diese Organisation 1999 kennen.
Alle Mitglieder waren afrikanischer Abstammung und Flüchtlinge, aber sie
kämpften für die Rechte aller Flüchtlinge und Migranten in Deutschland.
Ihre Prinzipien, die heute immer noch gelten, lauten: gleiche
Zugangsmöglichkeiten für jeden. Ihr Ziel war die Ermächtigung der
Flüchtlinge und Migranten, so dass sie ihr Schicksal in die eigene Hand
nehmen und für sich selbst entscheiden könnten, was sie wollen und was
nicht. Sie mobilisierte Flüchtlinge aus ihren Lagern, Gefängnissen,
Krankenhäusern und Wohnungen, um gegen die Ungerechtigkeit hier in
Deutschland, in ihren Herkunftsländern und überall auf der Welt zu
kämpfen. Sie schreckte nicht zurück vor Behörden, Unterstützern, vor
Freuden und Feinden gleichermaßen. Sie "zerkleinerte" niemanden, weil sie
jeden respektierte. Und das sogar zu Zeiten, in denen es schwer war, den
Willen von Unterstützern, Freunden und Gegnern zu akzeptieren, da sie eine
einheitliche Bewegung sein wollte, die aktiv wachrüttelt.
Heute sind die Prinzipien immer noch die gleichen, die zusammen mit den
Zielen, dem Eifer, der Motivation und der Standhaftigkeit dazu beitragen,
den Kampf voranzutreiben. Wenn ich heute auf mein bisheriges Leben
zurückblicke, dann kann ich nur sagen, die Erfahrungen und die Stärke, die
ich gewonnen habe, und die geistige Kraft (spirit) in mir, um gegen
Diktatur, Rassismus, Faschismus, Dominanz, Patriarchat, Anhängigkeit,
Kolonialismus und all die anderen Formen von Ungerechtigkeit zu kämpfen,
hätten sich ohne die Zeit mit "The VOICE" nicht so entwickeln können.

Ausgerüstet mit all diesen Eigenschaften und durch die zehn Jahre, die
geprägt waren vom Überleben und von der Existenz in diesem Land, habe ich
mich mit anderen Migranten und Flüchtlingen zusammengeschlossen, meine
Rechte und die aller anderen zu verteidigen, die in diesem Land und auf
der Welt leben. Wir waren und sind gewillt, dieser Ungleichheit die Stirn
zu bieten. Wir kämpfen gegen Diktatoren, Nazis, Faschisten, den deutschen
Staat und seine Instrumente mit all unseren Kräften. Wir sind bereit,
unser Leben für das Wohl der Menschheit zu opfern. Einige von uns sind in
diesem Land kaltblütig getötet worden. Weitere werden folgen, da sie für
ihre Existenz, fürs Überleben, für gleiche Zugangsmöglichkeiten und für
Selbstbestimmung kämpfen. Wir wurden deportiert, vergewaltigt, von der
Polizei geschlagen, vergiftet, gelähmt und sogar durch das System gänzlich
zerstört. Jetzt kämpfen wir gegen Menschen, die Jahre zuvor unsere
Unterstützer waren.

Jahrelang kämpften wir gegen Deportation, soziale Ausgrenzung,
Prekarisierung, Residenzpflicht und Gutscheine, kämpften wir gegen Lager,
Diskriminierung, Rassismus, Folter, Vergewaltigung und Gefangenschaft in
Deportationsgefängnissen, kämpften wir für die Rechte unserer Familien,
zusammenzuleben, für die Kinder der Opfer, für die spezifischen Gründe der
Frauen, vor Schikanierungen zu flüchten, für bi-nationale und
bi-kontinentale Partnerschaften und Eheschließungen. Obwohl es
überraschend erscheinen mag, dass all diese Formen von Verfolgung in einer
so genannten Demokratie existieren, sind sie Realität in Deutschland.
Meistens werden diese Kämpfe gegen die Verfolgungen von unseren deutschen
Unterstützern, Freunden und Feinden gleichermaßen, formuliert, unterstützt
und sogar oft ausgeführt.

Durch die jahrelange Zusammenarbeit mit anderen Gruppen haben wir unsere
eigenen Stärken entwickelt. Weil wir uns selbst befreien wollten, haben
wir unsere eigenen Strategien formuliert. Weil wir unabhängig sein
wollten, haben wir uns im wechselseitigen Vertrauen organisiert. Weil wir
standhaft sein wollten, haben wir uns selbst angespornt. Weil wir all
diejenigen erreichen wollten, die wie wir Ungerechtigkeit erfahren haben,
grenzten wir uns nicht ab, wenn es um unsere Prinzipien ging. Auch in
schwierigen Zeiten standen wir fest, wo andere aufgaben, schauten nach
vorn, wenn andere anhielten; hielten zusammen, wenn andere auseinander
gingen; klopften einander auf die Schulter, während sich andere
gegenseitig bekämpften. Wir verteidigten uns, wenn wir uns angegriffen
fühlten. Dies war die Basis, auf der wir unsere Selbstorganisation gesehen
haben und immer noch sehen.

Obwohl es offensichtlich ist, dass wir den Punkt noch nicht erreicht
haben, wo wir von einer Migranten- und Flüchtlingsbewegung in Deutschland
sprechen könnten, das Ziel unserer Selbstorganisation, gegen unsere
inhumane Behandlung und die inhumanen Bedingungen zu kämpfen, richtet sich
nicht nur gegen den Staat, sondern ebenso gegen die völlige Dominanz der
deutschen progressiven Bewegung unter uns. Das hat es fast unmöglich
gemacht, uns ausschließlich auf Themen zu konzentrieren, die die
institutionellen und systematischen Attacken auf unsere Existenz und auf
unsere Rechte betreffen. Stattdessen versuchen wir, Brücken zwischen den
Migranten- und Flüchtlingsgruppen zu bauen, die von den "progressiven"
Teilen dieser Gesellschaft abgerissen wurden. In der Tat haben wir in den
letzten Jahren einen Großteil unserer Zeit damit verbracht, dafür zu
kämpfen, dass unsere Stimmen gehört werden, damit nicht die dominante
Linke für uns spricht und damit es so nicht unvermindert weitergeht. Dies
ging nicht kampflos vor sich.
Um einige Aspekte unseres Kampfes darzustellen, werden im Folgenden einige
einschlägige Fragen analysiert.

1. Welche Möglichkeiten bestehen, sich gegen Menschenrechtsverletzungen zu
wehren?

Oft wird uns die Frage gestellt: Es ist offensichtlich, dass es
Menschenrechtverletzungen gegenüber Flüchtlinge und Migranten gibt, welche
Möglichkeiten bestehen, als Opfer gegen den Staat vorzugehen?
Zunächst liegt bereits in einer derartigen Frage ein Problem. Das Problem
der Menschenrechtsverletzung durch diskriminierende und rassistische
Gesetze wird nur als Problem der Migranten und nicht als ein die ganze
Gesellschaft betreffendes betrachtet. Dieser Ansatz sucht nach einer
Lösung, die allein von den Migratengemeinschaften kommen soll oder aber
von den weißen Deutschen, die es als ein Privileg und nicht als ihre
Verantwortung begreifen, gegen die Menschenrechtsverletzungen vorzugehen,
und sich damit noch in die Position des überlegenen Helfers bringen.
Zweites, Segregation, Isolation, Diskriminierung und Rassismus sind ganz
offensichtlich sehr ausgeprägt und durchdringen die ganze Gesellschaft. Es
sind nicht nur Menschenrechtsverletzungen, sondern Gesetze, die gemacht
wurden, um gegen jeden Widerstand oder jede Selbstorganisation vorzugehen.
Diejenigen, die von den Gesetzen betroffen sind, sollen an ihre
Unterlegenheit erinnert werden. Allein die Tatsache, dass es für Deutsche
und Ausländer zwei Rechtsysteme gibt, spricht schon für sich: die
Residenzpflicht, Kontrollen aufgrund der Hautfarbe oder anderer
phänotypischer Merkmale. Das bedeutet, dass die Deutschen, die weißen
Deutschen, weil die anderen, nicht-weißen auch unter diese rassistischen
Gesetze fallen, über den Gesetzen stehen. Das macht sie überlegen.
Wie können die Opfer gegen den Staat oder sogar gegen die Gesellschaft
vorgehen? In diesem Fall konzentrieren wir uns auf die Flüchtlinge und
Migranten, die keine deutsche Staatsangehörigkeit haben. Es gibt wenig
Möglichkeiten. Wegen nichts und wieder nichts werden sie kriminalisiert.
Und das von Beginn an. Allein die Tatsache, dass einer gegen bestimmte
Gesetze oder Verfolgung kämpft, ist bereits ein Verbrechen. Wir verbringen
viel Zeit damit, aufzupassen, um nicht noch mehr ?Verbrechen? zu begehen.
Zum Beispiel ist bereits der Protest gegen rassistische
Polizistenkontrollen, die die Migrantengemeinschaften sehr oft betreffen,
strafbar, wird er von der Polizei angezeigt. Obwohl das auch weißen
deutschen Bürgern passieren könnte, trifft es diese bedeutend seltener,
dass sie auf der Straße kontrolliert oder attackiert werden, allein, weil
sie weiß sind. Bereits unsere Teilnahme an Demonstrationen für mehr Rechte
oder Meinungsfreiheit außerhalb der uns zugewiesenen Landkreise
(Residenzpflicht) wird mit Gefängnis bestraft.

Eine letzte Anmerkung dazu: Es gibt keine Möglichkeit das System zu
ändern, indem man seine Regeln befolgt, besonders in Deutschland nicht. Es
ist schwieriger geworden von außen gegen das deutsche System zu kämpfen,
weil es recht erfolgreich andere europäische Länder zwingt, seine Asyl-
und Migrationspolitik zu übernehmen, das rassistische System in Europa zu
harmonisieren und immer mehr drakonische Maßnahmen gegen Migranten zu
etablieren. Da es wenige Möglichkeiten gibt, Kämpfe zu initiieren, ist die
Antwort für uns Selbstbestimmung und Solidarität unter den
Migrantenorganisationen. Das geschieht losgelöst von der deutschen
"Linken". Sie ist auch Teil des Problems. Das bedeutet, dass wir selbst
über unser "warum", "wo", "mit wem", und "wie" bestimmen müssen. Um es
klar zu sagen: Wir können gegen den Staat nur etwas erreichen, wenn wir
aktiv zivilen Ungehorsam gegen alle diskriminierenden und rassistischen
Gesetze praktizieren und sie so nutzlos machen.

2. Wie organisieren sich Flüchtlinge und Migranten?

In den letzten zwei Dekaden, vor allem aber in den 1990ern, haben
Flüchtlinge und Migranten entscheidend dazu beigetragen, die Problematik
der Migration, der Diskriminierung und des Rassismus zu verdeutlichen, die
durch den deutschen Staat propagiert, ausgeführt und von der deutschen
Gesellschaft mitgetragen wird. Es haben sich grenzüberschreitende
(transnationale) und multiethnische Migrantenorganisationen
herausgebildet, um gegen die Aggressionen des Staates zu kämpfen. Dieses
Phänomen ist zu unterscheiden von den ethnischen oder
national-orientierten Migrantenorganisationen, die aus dem Interesse
heraus entstanden sind, gleiche Nationalitäten zu vereinigen. Diese neuen
Merkmale der Organisation wurden intensiv von Flüchtlingen vorangetrieben,
insbesondere durch die Gründung von "The VOICE" im Jahre 1994 und die
spätere Etablierung des Netzwerks "die Karawane für die Rechte der
Flüchtlinge und Migranten" im Jahr 1998. (www.thecaravan.org)

Dadurch haben viele Flüchtlinge und Migranten die Gelegenheit ergriffen,
eine alle verbindende Strategie für die gleichen Probleme zu nutzen, statt
den Problemen individuell zu begegnen oder mit einzelnen Kampagnen. Obwohl
wir damit am Anfang Erfolg hatten, was bis heute so gesehen wird, wurde
dieser Erfolg durch zunehmende Verfolgungen von Flüchtlingen und Migranten
durch den deutschen Staat, die Gesellschaft und durch den Konflikt mit der
sogenannten Linken gekontert. Unser Versuch, uns zu organisieren, ist von
Behörden, den Staat unterstützenden lokalen Sicherheitskräften und von der
rassistischen Gesellschaft als ganze mit bösartiger Härte und staatlich
inszenierten Attacken begegnet worden.

Wie nutzen wir diese Erfahrungen, uns zu organisieren, oder besser
ausgedrückt, uns zu re-organisieren? Der erste Schritt ist, unsere
verschiedenen Probleme (Angriffe, Diskriminierung, Rassismus,
Ungerechtigkeit und Dominanz ...) zu benennen, indem wir zur gleichen Zeit
unsere Gemeinsamkeiten im Kampf festlegen. Dies ermöglicht es uns, auf
unsere Motivation zur Selbstverteidigung zuzugreifen. Wichtig ist zudem:
unsere Selbstständigkeit, Selbst-Inspiration und unser eigenes Bestreben,
uns aufeinander verlassen zu können. Selbstvertrauen öffnet den Weg für
eigene Entscheidungen, um unserer Ziele ohne direkten Einfluss von unseren
Unterstützern und neo-antirassistischen und anti-faschistischen Gruppen zu
erreichen. Die eigenen Aspirationen wiederum machen unsere
unveräußerlichen Rechte unanfechtbar. Auf der anderen Seite müssen wir
einen Raum schaffen für offnene Solidarität mit Gruppen und Organisationen
anderer politischer Herkunft. Jedoch kann eine erfolgreiche Kooperation
nur existieren, wenn wir wissen, was wir und wie wir das erreichen wollen.
Es kann keine erfolgreiche Kooperation geben, wenn wir ungleich sind oder
dazu durch Staat und Gesellschaft gemacht werden. Das ist die Situation,
in der wir uns derzeit befinden. Es gibt schon einige Flüchtlings- und
Migrantenselbstorganisationen, aber wir müssen mehr tun, um unabhängig zu
werden in unseren Ideen, Motivationen, Strategien und Aktionen. Wir müssen
auch einen Weg finden, endlich politisch und finanziell von der deutschen
Linken unabhängig zu werden.

Auf dem Karawane Kongress in Jena 2000 startete die Karawane die Kampagne
gegen die Residenzpflicht. Initiiert wurde sie von "The VOICE (Refugee)
Forum" Sie wurde zunächst gefeiert und durch viele linke und progressive
Organisationen unterstützt. Politisch und finanziell gesehen, bestand
Einigkeit, gegen das Gesetz vorzugehen. Es gab jedoch unterschiedliche
Ansichten, wie dies erreicht werden könne. Dadurch, dass einige deutsche
Unterstützergruppen, als ob sie die Meinung der Flüchtlinge präsentierten,
den Kampf gegen das Gesetz nicht als einen wichtigen Baustein in der
allumfassenden Repression gegen die Migranten begriffen, machten sie die
Strategie der Flüchtlinge, gegen das deutsche Apartheidssystem vorzugehen,
fast gegenstandslos. Sie traten hingegen für eine Kampagne für globale
Bewegungsfreiheit ein. Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit der
Flüchtlinge hier in Deutschland existiert seit 1982. Sie stellt eine der
entscheidenden politischen Instrumente dar, um ihre Rechte auf Freiheit,
auf Vereinigung, auf freie Rede und selbstbestimmter Entwicklung zu
beschneiden. Nachdem die Flüchtlinge im gleichen Jahr in Jena zu zivilem
Ungehorsam aufgerufen hatten, um so gegen die an Apartheid erinnernde
Einschränkung der Bewegungsfreiheit vorzugehen, haben sich
überraschenderweise viele Gruppen und Organisationen von der Kampagne
distanziert. Es kam zu Diskussionen in vielen deutschen Gruppen, ob es ein
richtiger Weg sei, deutsches Recht an einigen Punkten zu brechen.
Daraufhin mussten wir ihnen klarmachen, warum wir hier in Deutschland
sind. Die Diskussion erreichte ein Niveau, auf dem uns von Freunden und
Feinden gleichermaßen gesagt wurde, unsere momentanen Restriktionen seien
nicht mit denen der Ausländer und denen, mit denen in der Nazizeit die
Ausländer gebrandmarkt wurden, zu vergleichen. Deshalb waren einige
Flüchtlinge wenig begeistert oder demotiviert, gegen die Gesetze zu
kämpfen. Sie glaubten an die Unterstützung ihrer deutschen Unterstützer
und vertrauten ihren Ratschlägen.

Eine der vielen Gründe, warum die Aktionsform der "Grenzcamps"
unterbrochen oder ausgesetzt wurde, lag in den unterschiedlichen Ansätzen,
die die deutschen Unterstützer sowie die Flüchtlinge und Migranten
vertraten. Auch 2002 und 2003, als die Flüchtlinge gegen die Asyllager in
Deutschland kämpften, kam es zu einer hitzigen Diskussion über den
Gebrauch des Wortes "Lager". Das Wort "Lager" konnte als grundlegender
Begriff der Kampagne akzeptiert werden, weil die Flüchtlinge drohten, aus
allen Aktionen mit den deutschen Unterstützern auszusteigen. Inzwischen
wird es verwendet, um damit die schrecklichen Asyllager in Deutschland zu
bezeichnen. Obwohl wir mehr oder weniger die Freiheit hatten, unser Leiden
auszudrücken, die Freiheit, unsere Strategien umzusetzen, hatten wir nie
wirklich.

Wir glauben an eine Selbstermächtigung der Flüchtlinge und Migranten, die
den Kampf in unseren Heimatländern mit dem in den Ländern verbindet, in
denen wir nach Schutz suchen oder in denen wir beabsichtigen, bessere
Lebensmöglichkeiten zu finden. Deshalb benutzen wir in der "Karawane" den
Slogan: "Wir sind hier, weil ihr unser Länder zerstört". Mit diesem Slogan
ist die Verbindung eindeutig herausgestellt. Die Flüchtlinge und Migranten
identifizieren sich damit. Wir verbinden unsere Fluchtursachen mit den
Gründen, aus denen heraus wir auch hier gegen Verfolgung kämpfen. Wir
vergleichen die unmenschliche Behandlung hier mit dem, was uns in unseren
Ländern passiert ist, bevor wir nach Deutschland kamen. Dadurch finden wir
eine Verbindung zu dem, was vorher und jetzt passiert ist und was
wahrscheinlich noch in der Zukunft passierte, wenn wir jetzt nicht
handelten. Wenn es nicht das ist, was wir alle tun sollten, dann glauben
wir, dass unser Kampf nicht lohnt. Wenn wir nicht die Fähigkeit haben,
Parallelen zu ziehen, dann sind wir nicht in der Lage, uns die Macht
unserer Gegner vorzustellen. Wenn wir nicht weit über uns hinaussehen
können, sei es rückwärts oder vorwärts gerichtet, können wir unsere Ziele
und das, was wir erreicht haben, nicht ausseichend bemessen und
analysieren.

3. Was wollen wir erreichen ?

Was wollen wir erreichen mit der Organisation ?The VOICE Refugee Forum?
und der Flüchtlings- und Migranteninitiative "Karawane für die Rechte der
Flüchtlinge und Migranten"?

Wir haben in unserem Kampf bereits viel erreicht. Das erste, was wir
erreicht haben, war ein immer noch bestehender Widerstand der Flüchtlinge
und Migranten. Unsere Schlüsselwörter sind Selbstorganisation,
Selbstbestimmung und Ermächtigung der Unterdrückten. In diesem speziellen
Fall meine ich selbstverständlich die Flüchtlinge und Migranten. Wir
wollen eine Situation erzielen, in der wir nicht allein uns selbst und
unsere Rechte verteidigen, sondern auch alle Gesetze und Bedingungen
abschaffen, die uns untergeben und machtlos machen. Wir wollen eine
Situation erzielen, in der wir uns auf unsere sozialen und politischen
Bewegungen in unseren Herkunftsländern beziehen können. Damit wollen wir
gleichzeitig die politische Landschaft in den Ländern beeinflussen, in
denen wir uns gerade befinden.
Der Fall Oury Jalloh (
http://initiativeouryjalloh.wordpress.com), ein
schwarzer Asylbewerber aus Sierra Leone, der im Jahr 2005, durch deutsche
Polizeibeamten zugelassen, in Zelle Nr. 5 in Dessau lebendig verbrannte,
hat gezeigt, was wir erreichen können und was wir beabsichtigen.

Seit Oury Jallohs Tod bis heute haben wir nicht falsch gelegen, unsere
Forderung nach Gerechtigkeit herauszuschreien. Wir waren noch nie so
deutlich in unserer Bereitschaft, uns die Wahrheit nicht nehmen zu lassen.
In diesem spezifischen Fall haben wir noch einmal das wahre Gesicht des
Staates, der Gesellschaft und der Linken im besonderen gesehen. Der ?Fall?
Oury Jalloh hat uns gezeigt, dass es nicht ein ideologischer Konflikt mit
anderen Gruppen oder unterschiedliche Ansätzen sind, die uns einschränken.
Wir haben gemerkt, dass es der tiefwurzelnde Rassismus in der von Weißen
dominierten Gesellschaft ist, die Angst vor der Gleichheit und vor der
Autonomie unserer Rechtmäßigkeit, die am meisten zu Konflikten mit unseren
Unterstützer führte und zukünftig führen wird. Die Herausforderung war für
die meisten weißen Deutschen zu groß, die in Kontakt mit der ?Initiative
in Gedenken an Oury Jalloh? standen. Mit so eine große Herausforderung
hatten sie ihre selbst geschafften Grenzen erreicht.

Wir, die Flüchtlinge und Migranten, sind immer bei der Meinung geblieben,
dass Oury Jalloh ermordet wurde. Dem wurde anfangs oft widersprochen.
Sogar von vielen aus den unterschiedlichsten Kreisen der Linken. Es
reichte aus, auf der Straße ?Oury Jalloh, das war Mord? zu skandieren oder
in Positionspapiere zu schreiben, um einige weiße, deutsche Sympathisanten
aus der Kampagne zu vergraulen. Dann kam der Fall schließlich zum
Landgericht nach Dessau. Die Anklage gegen die Polizeibeamten, die
Hypothese des Staatsanwaltes, die falschen Aussagen und Lügen der
Polizeibeamten und ihre Mauschelei bei den Zeugenaussagen sowie das blinde
Auge des Richters bewiesen der deutschen Öffentlichkeit einmal mehr, wie
nahe wir mit der Analyse von Ourys Mörder lagen.
Bis heute gab es keine Untersuchung in die Richtung Mord. Sogar die
Anwälte der Familie von Oury Jalloh, die als linke Anwälte gelten, sind
nicht in der Lage, zu ihren Prinzipien zu stehen. Sie haben die
Gelegenheit genutzt, uns noch mehr auszubeuten. Wir sind überzeugt, dass
dieser Mord nicht nur vom Staat und seinen zahlreichen Helfershelfern
verübt wurde, sondern auch mit dem Einverständnis der deutschen
Gesellschaft. Es ist auch klar für uns, dass am Ende die Angeklagten
unbestraft davon kommen werden. Aber das ist es auch, was wir erreichen
wollen: den sogenannten Progressiven zeigen, dass nicht nur der Staat,
sondern auch sie Position beziehen müssen.

Ein anderes Beispiel die politische Landschaft zu beeinflussen, ist die
Frage nach der ?Autonomie der Migration?. Dieses Thema ist nun von vielen
deutschen Aktivisten aufgegriffen worden, um erneut die Art zu evaluieren,
wie Migration vom Staat verwaltet wird. Politische Parteien nutzen die
Gelegenheit, um ihre unterschiedliche Ideologien vorzustellen. Aber was
ist mit denen, die direkt davon betroffen sind? Was haben sie zu sagen
oder wie sollen sie auch in diesen Diskussionsprozess einbezogen werden?
Zahlreiche Konferenzen und Seminare wurden von deutschen, linken
Aktivisten organisiert, um über Flucht und die dahinterliegenden Gründe,
über die Konsequenzen der Migration und ihre Autonomie zu diskutieren.
Dabei waren nur wenige oder gar keine Aktivisten der
Migrantenorganisationen beteiligt. Es ist sehr schwierig, Beispiele von
Seminaren oder Konferenzen zu benennen, die in Asyllagern oder
Studentenwohnheime stattgefunden haben. Wenig wurde hingegen getan, um es
mehr Flüchtlingen und Migranten zu ermöglichen, teilzunehmen. Umso mehr
dafür aber für sogenannte Experten in der Verwaltung der Migration.

Migration ist eine der ältesten Aktivitäten der Menschen. Bis zu den
letzten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhundert wurde sie als ein
Geburtsrecht angesehen. Die Gründe und Effekte wurden in einer
holistischen und praktischen Art und Weise gesehen, um den derzeitigen
status-quo zu verstehen. Sie wurden mit dem Erfolg verschiedener
Errungenschaften der Menschheit verbunden. Heute ist die globale Migration
stark mit dem Kapitalismus verbunden. Davon profitiert der Westen mehr als
wir aus dem Süden. Migration aus ökonomisch weniger stabilen Gebieten des
Südens ist zu einem kriminellen Akt umdefiniert worden. Die Frage ist, ob
wir die "Autonomie der Migration" als eine soziale Bewegung mit einem
politischen Hintergrund oder als eine politische Bewegung mit sozialen,
ökonomischen und ökologischen Ursachen und Konsequenzen sehen sollten. Die
Autonomie der Migration ist für uns wichtig, um die politischen
Perspektiven in der Migration heute über Auszugs- und Fluchtgründe
herauszustellen. Um die Beziehung von Flucht und Immobilität zu begreifen,
muss man beides sowohl Geschichte und Realität als auch die Verlagerung
der westlichen Paradigmen in der Migrationspolitik und Theorie verstehen.
Die Geschichte lässt uns erkennen, dass die Deutschen und das heutige
Deutschland von Migration profitiert haben. Realität ist, dass es die
deutsche Gesellschaft als ganze und die Linke im besonderen nicht
geschafft hat, eine Selbstorganisierung der Migranten zu fördern, die
deren Interessen vertritt. Die wichtigsten Aspekte der Analyse der
"Autonomie der Migration" und ihrer Interpretation müssen allein aus dem
Blickwinkel der Betroffenen, der Migranten also, gesehen werden. Das ist
bis jetzt nicht geschehen.

Die Verfolgung und Kriminalisierung der Flüchtlinge und Migranten

14 Jahre nach der Gründung von The VOICE (Flüchtlings-)Forum und 10 Jahre
nach der aktiven Vernetzung von Flüchtlingen und Migranten durch die
Karawane, haben wir nie aufgehört, unsere Forderungen eindeutig und
bestimmt zu proklamieren. Unsere Forderungen bestehen in nicht mehr als
dem Recht auf Chancengleichheit, um es einfach auszudrücken. Obwohl die
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN von 1948 in den Horizont
der westlichen Gesellschaften und der deutschen im besonderen gelangte,
konzentrierten sich die Menschenrechte in diesen Ländern nur auf die
eigenen Bürger und darüber hinaus auf Bürger weißer europäischer Herkunft.
Während die Erklärung Geschichte ist, bedeuten Menschenrechte in der
heutigen westlichen Welt nur Sicherheit der weißen Bürger vor
Terroranschlägen. Wir waren jedoch erfolgreich in einer unserer
grundlegenden Anstrengungen: Der Kampf für Artikel 13 der Allgemeinen
Erklärung der Menschenrechte, der da sagt:

1. Everyone has the right to freedom of movement and residence within the
borders of each State
2. Everyone has the right to leave any country, including his own, and to
return to his country

Wir haben es lange als unsere Priorität betrachtet, für uns zu sprechen
und unsere Verfolgung durch unsere Länder zum Ausdruck zu bringen, ebenso
hier in Deutschland. Wir haben es zu unserer Kampagne gemacht, am Recht
festzuhalten, unsere Verfolgung, Diskriminierung und Rassismus, die uns
widerfahren sind, genau zu bestimmen. Das Recht, Parallelen zu ziehen und
das Ausmaß und die Absicht der Beschimpfungen zu beschreiben, zu denen wir
verdammt worden sind. Wir halten am Recht fest, zu kämpfen und uns auf die
Art und Weise zu verteidigen, die wir können und wählen, so wie es jeder
Mensch tun würde, der sich bedroht fühlt oder beleidigt wird.

Wir haben immer und werden immer gegen Deportationen kämpfen. Lange war es
die politische Strategie von Kolonialisten, Kapitalisten, Diktatoren und
Rassisten alle unerwünschten Menschen aus der Gesellschaft auszulöschen.
So betrachten wir das, was denen passiert ist, die aus Deutschland
deportiert wurden. Sie wurden vernichtet. Das ist unsere oberste
Forderung, die mit allen anderen folgenden Punkten verbunden ist:

- Abschaffung des "illegalen Aufenthaltes". Jeder Mensch hat mit der
Geburt das Recht, in Würde zu leben und alle Ressourcen zu nutzen, die er
zum Leben braucht.
- Wir kämpfen für unbegrenzte Niederlassungsfreiheit und freien Zugang zu
Bildung und Arbeit. Dieses Recht wurde durch die Abschaffung des Rechtes
auf politisches Asyl 1993 in Deutschland abgeschafft.
- Nichts ist elementarer als das Recht, zu wählen, wo man bleiben möchte.
Ein Recht, das allen weißen Deutschen zusteht.
- Wir wollen ?erzwungene Migration? zum Stillstand bringen sowie den
Handel mit unseren Leben. Wir sind hier, weil unsere Länder von Rassisten,
Kolonialisten, kapitalistischen Autokraten und Diktatoren zerstört werden.
Wir werden gezwungen zu emigrieren und wenn wir hier ankommen, werden wir
kriminalisiert, indem wir in Lager gesteckt werden. Diese werden von
Geschäftsleuten geleitet, die wiederum von den jeweiligen Bezirken dazu
beauftragt werden. Am Ende werden wir deportiert, ermöglicht durch
korrupte Übereinkommen und offensichtliche Bestechungen von korrupten
Mitarbeitern unserer Botschaften. Politischer und Ökonomischer Druck wird
auf die Regierungen der jeweiligen Herkunftsländer ausgeübt, um so
willkürliche Abschiebungen zu ermöglichen.

- Wir verlangen die Aufhebung polizeilicher Kontrollen, die Beseitigung
von Brutalität und Straflosigkeit gegenüber Flüchtlingen, Migrantinnen und
Migranten. Flüchtlinge und Migranten/Migrantinnen werden kriminalisiert,
wenn sie grundlegenden Rechte einfordern. Sie werden kriminalisiert, wenn
sie die Kriminellen benennen.

- Wir werden kriminalisiert, indem man uns in Lager, Flüchtlingsheime,
Internierungslager, Ausreisezentren und Abschiebegefängnisse steckt. Wir
wollen, dass alle diese Einrichten geschlossen werden. Aus diesem Grund
kämpfen wir gegen das Lagersystem und jegliche Form der Apartheid.

- Wir widerstehen und kämpfen für die Abschaffung aller speziellen
Gesetze. Spezielle Gesetze für Flüchtlinge und Migrantinnen/Migranten
haben nur ein Ziel, sie zu kriminalisieren und sie zu unterwerfen. Diese
Gesetze lassen sie Straftaten begehen, die weiße Deutsche niemals begehen
können. Diese Gesetze bestehen aus dem Asylbewerberleistungsgesetz, dem
"Gutscheinsystem" und den eingeschränkten Gesundheits- und
Sozialleistungen. Der Zugang zu gesundheitlicher Versorgung sollte jeder/m
gewährleistet werden – auch denen, die hier "ohne Papiere" leben.

- Wir werden gezwungen, uns in den Untergrund zurückzuziehen aus Angst,
abgeschoben zu werden. Wir werden gezwungen, in Deutschland ohne Papiere
zu leben. In Deutschland leben ungefähr zwei Millionen Menschen ohne
Papiere, die in den Augen dieses Systems nicht einmal existieren. Wir
verlangen die unverkürzte Anerkennung unserer Selbst und unserer Rechte.

- Wir werden sexuell belästigt, angegriffen und ausgebeutet. Unsere
Familien werden auseinander gerissen und zerstört. Einige unserer
Familienmitglieder werden in Deutschland ermordet. Wir verlangen, die
Täter sexueller Übergriffe und die Ausbeuter unserer Leute zu verfolgen
und zu bestrafen.

- Im Namen der ?Antiterror-Gesetze? ist staatlicher Terror gegen uns
erklärt worden. Wir sind zu einer Bedrohung der Gesellschaft geworden, in
der wir existieren. Wir fordern die Abschaffung der Antiterror- und
Sicherheitsgesetze und die Beendigung von staatlichem Terror. Wir brauchen
Sicherheit. Wir zahlen den höchsten Preis durch unsere Freiheit. Dieser
Preis ist nicht notwendig.
- Durch erzwungene Integration werden wir schließlich verfolgt und
gedrängt, unsere Identitäten abzulegen. Eine einseitige Integration führt
nur zu einer erzwungenen ?friedlichen? Koexistenz und nicht zu einer
harmonisierten Gesellschaft. Wir fordern, die erzwungene Integration und
die rassistische Immigrationskontrollen durch Gentests zu beenden.

Stimmen der Toten und derjenigen, die noch Sterben werden.

Das Fazit lautet, dass die Immigration für jene kriminalisiert wurde, die
aus ökonomisch instabilen Ländern oder aus Ländern mit niedrigen Einkommen
migrieren. Seit dem zweiten Weltkrieg sind Rassismus und staatliche
Verfolgung heute in Deutschland an einem neuen Hochpunkt angelangt.
Widerstand und Selbstorganisierung der Flüchtlinge und
Migrantinnen/Migranten haben in den letzten Jahrzehnten, mehr denn je, an
Wirksamkeit und Stärke zugenommen. Dies hat allerdings nicht die Zahl der
Tötungen durch Staat und Gesellschaft vermindert. Die linken und
progressiven Bewegungen, welche Partner in unserem Kampf waren, sind
heutzutage ruhiger als je zuvor. Sie lenken uns ab oder nutzen uns aus,
indem sie den Kampf in ihrem Interesse dominieren wollen. Zuvor wurden wir
vom Staat angegriffen, doch jetzt spüren wir die Angriffe auch vom Rest
der Gesellschaft, einschließlich der Linken. Sie neigen dazu, uns nach
unserer zahlenmäßigen Größe anzuerkennen und nicht nach unseren Handlungen
oder nach unserem Engagement. Wir werden benutzt und ausgebeutet, wenn wir
viele sind. Sind wir wenige, werden wir nicht gehört.

Unsere tiefste Angst ist nicht nur, dass wir unzulänglich sind. Vor allem
besteht die Angst darin, dass die Mehrheit der weißen Gesellschaft in
ihrer Gesamtheit in die Richtung geht, unsere Eliminierung –sei es durch
Tötungen in den Händen staatlicher Einrichtungen oder durch Abschiebung –
stillschweigend zu akzeptieren. Die progressive Linke verweilt still oder
sie wird verschworener Teil unserer Eliminierung. Sie haben es nicht nur
versäumt, uns zuzuhören und unserer Schreie zu verstehen, sie wollen uns
vorschreiben, wie wir zu schreien haben, wenn wir angegriffen werden.

Viele unserer Getöteten sind es, wie Halim Dener, welcher in der Türkei
gefoltert und am 29. Juni 1994 in Hannover von Polizeibeamten in den
Rücken geschossen wurde, während er in den Strassen Plakate anbrachte; wie
Amir Ageeb, welcher am 28. Mai 1999 im Verlauf einer Abschiebung in einem
Flugzeug in den Sudan von einigen deutschen Grenzbeamten getötet wurde;
wie Arumugasamy Subramaniam, der sich am 8. Dezember 2000 im
Abschiebegefängnis von Langenhagen (Hannover) erhängte, weil er sich vor
der bevorstehenden Abschiebung nach Sri Lanka fürchtete; wie unsere
geliebte Schwester Mareame Sarr, Mutter zweier Kinder, die am 14. Juli
2001 von zwei deutschen Polizeibeamten erschossen wurde, während sie
versuchte, ihre Kinder aus dem Haus ihres weißen Ex-Mannes abzuholen; wie
Oury Jalloh, welcher am 7. Januar 2005 von deutschen Polizeibeamten in
Zelle Nr. 5 des Dessauer Polizeireviers lebend verbrannt wurde; wie
Laye-Alama Conde, welcher am 7. Januar 2005 nach einem polizeilich
erzwungenen Brechmitteleinsatz in Bremen im Koma starb; wie Dominique
Koumandio, der am 14. April 2006 in Dortmund von zwei deutschen
Polizeibeamten erschossen wurde; wie Mohammed Selah, der am 14. Januar
2007 in Remscheid starb, nachdem ihm ein Krankenschein vom einem Beamten
des Sozialamts verwehrt worden war, mit dem er einen Arzt hätte aufsuchen
können; wie Adem Özdamar, ein türkischer Migrant, welcher am 17. Februar
2008 in Hagen in einer Polizeistation von deutschen Polizeibeamten brutal
misshandelt und angeblich anschließend erdrosselt wurde; und wie all
diejenigen, die wir nicht kennen oder nicht erwähnt haben. Ihr Blut wurde
für unseren Kampf vergossen und die Täter sind unbestraft geblieben. Wie
viele von uns müssen noch ermordet werden, bevor wir "Gefahr!" rufen?

Dies ist ihre Stimme (Voice) und die Stimme all derjenigen, die weiterhin
in den grausamen Händen dieses Systems und dieser Gesellschaft sterben
werden. Dies ist der hauptsächliche Grund unseres Kampfes und weshalb wir
selbstorganisiert und autonom sein wollen: Um uns selbst zu schützen, auch
vor denen, die uns nicht mehr helfen können, uns zu schützen.

Für das Autorinnenverzeichnis:
Mbolo Movuh Yufanyi von The VOICE Refugee Forum

**
Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hrsg.)
Jahrbuch 2009
Jenseits der Menschenrechte
Die europäische Flüchtlings- und Migrationspolitik
2009 – 280 Seiten – ? 19,90
ISBN 978-3-89691-760-7
Erscheinen: März 2009

In der Migrationspolitik gegenwärtiger Gesellschaften wird der humanitäre
Anspruch verstärkt von (trans)nationalen, oft ökonomischen und
sicherheitspolitischen Interessen überlagert. Während Hochqualifizierte
auf dem – Migrationsbewegungen seit jeher beeinflussenden – "Weltmarkt für
Arbeitskräfte" nahezu schrankenlos agieren können, erhöhen sich für
"wertschöpfungsschwache" MigrantInnen, z.B. Flüchtlinge, die Grenzen.
Diese Entwicklung fußt auf den Ansprüchen kapitalistischer Gesellschaften
– und führt zur menschenrechtswidrigen Ausgrenzung unerwünschter
Migration.

Das Jahrbuch 2009 nimmt u.a. AkteurInnen von Migrationspolitik und
-kontrolle in den Blick, zeichnet Linien des Widerständigen und der
Solidarisierung mit Migrationsbewegungen nach und reflektiert Aspekte wie
Kulturrassismus oder Nationalismus.

Sie können beim Verlag bestellen.
WESTFÄLISCHES DAMPFBOT
Hafenweg 26a · 48155 Münster · Tel. 0251/3900480 · Fax 0251/39004850
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